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Prüfbericht und ACR: Kritisch oder nicht?

(Teil 2 zu ACR, VPAT oder: Ist Microsoft Excel barrierefrei?)

Vorbemerkung: Ich war mir beim Schreiben des Artikels unsicher, ob die Herangehensweise eine gute Idee ist. Einerseits behandle ich etwas, was im Nachgang zu Prüfungen alltägliches Vorgehen ist, andererseits besteht die Gefahr, die Standards der Barrierefreiheit zu relativieren und aufzuweichen. Ich habe den nachfolgenden Beitrag daher drei Kollegen vorgelegt und tatsächlich sehr unterschiedliche Meinungen erhalten. Nach dem Feedback habe ich den Beitrag an einigen Stellen noch verändert, den Tenor allerdings nicht. An dieser Stelle vielen Dank an die aufmerksamen und kritischen Kollegen. Mir ist wichtig festzustellen: Die hier gefassten Gedanken betreffen nicht Prüfungen selbst. Deren Aufgabe ist die strenge Prüfung auf Regelkonformität, nicht die Verhandlung.

Für öffentliche Stellen ist Barrierefreiheit praktisch flächendeckend eine unabweisbare Anforderung, unter anderem, wenn digitale Produkte erstellt oder gekauft werden. Und dies schon recht lange: Die erste Barrierefreie Informationstechnik-Verordnung (BITV) stammt aus dem Jahr 2002. Auf dem freien Markt der Produkte und Dienstleistungen für Endverbraucher steht eine ähnliche Anforderung direkt vor der Tür, ab Mitte 2025 greift das Barrierefreiheitsstärkungsgesetz (BFSG).

Das ist ja für die Akteure des freien Marktes eine prima Situation. Haben doch die öffentlichen Stellen durch die BITV inzwischen über 20 Jahre Erfahrungen angesammelt, wie barrierefreie Software beschafft wird. Von dieser Erfahrung und den erprobten, laufend verfeinerten Vorgehensweisen muss sich doch profitieren lassen. Nach dieser langen Zeit wird der Anbietermarkt doch sicher über große Expertise verfügen, um digitale Barrierefreiheit in geforderter Qualität quasi von der Stange liefern zu können.

Nein, nach meiner Beobachtung – und viele mit dem Thema befasste Kolleg*innen werden mir da zustimmen – zeigt sich der Anbietermarkt hier erstaunlich unvorbereitet und zu mäßiger bis unzureichender Qualität unter dem Blickwinkel der Barrierefreiheit neigend. Deshalb ist die gefühlt kleinteilige Prüfung von digitaler Barrierefreiheit aktuell notwendig und wird es auf unabsehbare Zeit sein. Produzenten fehlt nach wie vor die gesicherte interne und in Prozesse integrierte Expertise, die eine externe Prüfung überflüssig machen würde.

Vermeintlich automatisierte Lösungen tauchen zunehmend auf dem Markt auf, können aber reihenweise das Versprechen von „kostengünstig, out-of-the-box, normkonform“ nicht einlösen. Barrierefreiheit bleibt an vielen Stellen Handarbeit und Gegenstand gefühlt aufwändiger Expertentests. Von Expert*innen erstellte Prüfberichte zur Normkonformität bleiben notwendig und sie werden – meine Einschätzung – öfter als es uns lieb ist von Mängeln berichten.

Erkenntnis bis hier:

  • Produkte bieten geforderte Qualitäten nicht verlässlich vom Start weg
  • Expertentests werden uns weiterhin begleiten
  • Prüfberichte sind oft eher Statusfeststellungen, taugen wegen festgestellter Produktmängel nicht als Prüfzertifikate

Obacht, biegen Sie hier bitte nicht falsch ab: In einer Prüfung festgestellte Mängel sollen grundsätzlich behoben werden. Es sind schließlich Eigenschaften, die einem Mitmenschen das Leben schwer machen können. Eine Norm erzählt keinen Quatsch.

Prüfberichte als Werkzeug

Prüfberichte sind das Abbild geleisteter und bezahlter Arbeit. Egal ob intern oder extern geprüft wurde, irgendjemand hat Zeit und Mühe in die gewissenhafte Betrachtung unter dem Aspekt der Barrierefreiheit gesteckt. Einen Prüfbericht allein als Beleg eines Mangels zu verwenden und mit einem „ist halt so“ fortzufahren, stellt eine Ignoranz gegenüber dieser Mühe dar und verkennt den Beratungs- und Werkzeug-Charakter, den ein Bericht im Grunde hat.

Prüfberichte, dazu zählen z.B. auch von Herstellern vorgelegte ACR (Accessibility Conformance Report), können Mängel ausweisen, mit denen ein Umgang gefunden werden muss: Produkt nicht kaufen? Problem einordnen und im Kontext Kritikalität bewerten? Nachbessern?

Die Antwort lautet: Ja, aber in umgekehrter Reihenfolge.

Nachbessern

Wodurch entsteht der Mangel? Ist z.B. eine Vorgabe des CD verantwortlich, ist eine eingesetzte Technik als solches auslösend, kollidieren späte Wünsche der Auftraggeberseite im Technologiekontext mit den normativen Anforderungen?

Nachbesserung ist erstes Gebot! Es müssen also Optionen für die Behebung der Mängel entwickelt und geprüft werden. Maßnahmen zur Besserung sind umzusetzen, sofern der Aufwand vertretbar ist. Und bitte an dieser Stelle aufgemerkt: Der Rahmen des Vertretbaren ist weit, sehr weit, zu stecken. Es geht um die Erfüllung berechtigter Anforderungen. Diese nicht zu beachten, schadet Nutzenden. Dass die Beachtung der Anforderungen in vielen Fällen gesetzlich gefordert ist, kommt ggf. noch hinzu. Im schlimmsten Fall werden Menschen von der Teilhabe am gesellschaftlichen Geschehen ausgeschlossen, im mildesten Fall macht es das Leben zusätzlich und unnötig schwer.

Es gibt aber durchaus Situationen, wo eine Heilung des Missstandes nicht möglich ist. Am Ende lässt sich dies fast immer auf die Frage nach dem Geld reduzieren, aber diese Sichtweise steht, wie dargelegt, erst am Ende einer eingehenden Betrachtung des Prüfergebnisses.

Problem einordnen und im Kontext Kritikalität bewerten

Jetzt ab auf’s Glatteis: Ist ein Mangel relevant?

Warum Glatteis? Die seit Jahren mit der Beschreibung und Prüfung von Barrierefreiheit befassten Menschen, egal ob aus eigener Betroffenheit und/oder aus professioneller Tätigkeit, haben lange um die Formulierung von Normen und die Verankerung in Gesetzen gerungen. Eine Bewertung in einer zweiten Stufe birgt die Gefahr, dass inzwischen (gesetzlich) geforderte Mindeststandards untergraben werden. Das darf in diesem Schritt natürlich auf keinen Fall geschehen und die Betrachtung hat mit dem nötigen Respekt gegenüber der Perspektive der Barrierefreiheit und damit dem Recht auf Teilhabe zu erfolgen.

Ganz praktisch gehört aber m.E. zur Wahrheit, dass seit gut 20 Jahren genau das, in der Regel sogar weniger, für die Barrierefreiheit getan wird. Eine Kultur der konstruktiven, der Sache dienenden Nutzung von Berichten als Werkzeug ist nur in Ansätzen entstanden.

Der Frage „Ist der Mangel relevant?“ sind also enge Grenzen gesetzt. Die Grundfragen, die zur Formulierung von Normanforderungen geführt haben, sind gewissenhaft zu berücksichtigen. Relevant meint also immer „im Kontext relevant“: Sind die durch den Mangel bedingten Informationsverluste und weiteren Einschränkungen im Kontext vertretbar, hindern sie also nicht an der grundsätzlichen, im Kern umfassenden Teilhabe aller (potentiellen) Nutzenden?

Nachfolgend einige Beispiele – natürlich an dieser Stelle nicht abschließend – die meine Überlegungen konkretisieren sollen.

 1. WCAG 2.1 SC 2.1.1 Keyboard: Kann auch ausschließlich mit der Tastatur alles bedient werden?

Ein Mangel in diesem Bereich kann sich tatsächlich auf Elemente beziehen, die im Kontext keinen oder nur marginalen Mehrnutzen bieten. Hier würde ich eine Abwägung zulassen.

Natürlich nennt der Prüfbericht den Mangel, weil es nach Norm einer ist. Eine Beurteilung im Kontext kann aber den entgehenden Mehrnutzen beurteilen und den Mangel als akzeptabel einstufen. Ist also beispielsweise ein Schalter nicht erreichbar, der zu Detailinformationen führt, die im Kontext nachrangig sind, entsteht zwar eine partielle Ausgrenzung, es wird aber nicht an der grundsätzlichen und erfolgreichen Nutzung gehindert. Der Mangel könnte im Kontext also als nachrangig eingeordnet und seine Behebung z.B. auf ein späteres Update herabpriorisiert werden. Voraussetzung ist natürlich, dass die vorenthaltene Information oder Funktion ehrlich unter dem umrissenen Fokus eingeordnet wird.

2. WCAG 2.1 SC 2.1.2 No Keyboard Trap: Kann jedes per Tastatur erreichbare Element auch per Tastatur wieder verlassen werden? (kurz gefasst)

Ein klassischer Showstopper, hier kann aus meiner Sicht ein Mangel nie akzeptiert werden. Wie der Name sagt, sitzen Nutzende in der Falle. Ob z.B. ein Trick auf Ebene des Betriebssystems hier einen Ausweg bietet, kann nur in sehr seltenen Ausnahmenfällen als Abhilfe herangezogen werden. Denn es gilt der Grundsatz, dass bei Nutzenden immer nur Wissen und/oder Fähigkeiten vorausgesetzt werden können, die nicht über die Grundannahmen der Norm und den „normalen“ Wissenstand von Nutzenden hinausgehen.

3. WCAG 2.1 SC 1.4.4 Resize Text, SC 1.4.10 Reflow

In diesem Bereich wird eine Kritikalität nach meiner Beobachtung oft verneint und auf Hilfsmittel wie eine Bildschirmlupe verwiesen. Dieser Argumentation folge ich nicht.

Ein Hilfsmittel ist immer im Sinne einer Ultima Ratio, also als letztes geeignetes Mittel, zu sehen. So kann es also auch bei der Beurteilung von Mängeln bei der Skalierbarkeit immer nur um die Einordnung von Informations- und Funktionsverlust gehen: Ist der Verlust im Kontext marginal? Den Verlust an Zugänglichkeit durch die Einführung einer zusätzlichen Hilfstechnik aus der Bewertung heraus zu leugnen, ist kein akzeptabler Weg.

Der Einsatz von Hilfsmitteln gehört in die freie Wahl der Nutzenden! Die Entscheidung, ein Hilfsmittel zu verwenden und sich in ändernden Kontexten mit der Bedienung vertraut zu machen, ist eine herausfordernde, anstrengende Zusatzarbeit. Aufgabe von Barrierefreiheit ist es, die Zugänglichkeit von Haus aus und Anschlussfähigkeit für unterschiedlichste Hilfstechniken sicher zu stellen. Barrierefreiheit führt also nie zum zwingenden Einsatz zusätzlicher Hilfsmittel, ihr Einsatz wird durch Barrierefreiheit nur ermöglicht.

Produkt nicht kaufen

Echt jetzt? Aber sicher, natürlich nicht!

Ein Produkt, das Mängel aufweist, die nicht behoben werden können und die im Kontext Zugänglichkeit an wesentlichen Stellen verhindern, ist ein schlechtes Produkt!

Was machen Sie mit einem Computer, der sich nur mit Hilfe eines Bleistifts anschalten lässt, weil man sonst einen elektrischen Schlag bekommt? Handelt es sich um ein schlechtes Produkt? Ja, es ist ein schlechtes Produkt! Es darf nicht in Betrieb genommen werden. Und diese Frage werden Sie nicht diskutieren wollen.

Warum sollten Sie ein Produkt kaufen, das Menschen, Kolleg*innen, Bürger*innen von der Nutzung ausschließt? Es handelt sich um Mängel, die für potentielle Nutzende einen Ausschluss bedeutet. Was sollte elementare Mängel im Bereich der Barrierefreiheit geringwertiger machen, als Mängel im Bereich der elektrischen Betriebssicherheit?

Mit Prüfberichten arbeiten, nicht durchwinken!

In Prüfberichten dokumentierte Mängel sind als Aufgaben zu verstehen. Kein gefundener Mangel ist marginal, sondern die Verletzung einer Mindestanforderung. Einen Mangel zu akzeptieren, kann somit immer nur im Kontext entschieden werden. Dabei ist dringend mit der Intention der gestellten Anforderung abzuwägen: kritisch oder nicht? Die Entscheidung „nicht kritisch“ kann aber keinen Mangel in einen Nicht-Mangel umdeuten, es ist nur eine Aussage im verantwortungsvoll betrachteten Kontext. Die Entscheidung ist zu begründen und Nutzenden transparent bekannt zu geben.

So ein langer Artikel, für etwas das gar nicht sein darf? Digitale Barrierefreiheit ist doch für viele gesetzliche Pflicht, die ist doch nicht diskutierbar. Stimmt, aber die Realität lehrt uns, dass die Praxis vielfach noch nicht reif für die volle Erfüllung der Anforderungen ist. Dieser Erkenntnis nicht Rechnung zu tragen, verbessert die Ergebnisse kurz- und mittelfristig nicht.

Meine persönliche Hoffnung ruht auf dem Barrierefreiheitsstärkungsgesetz (BFSG). Ich gehe davon aus, dass die freie Wirtschaft den Anbietermarkt schneller in die richtigen Bahnen bringt, als es den öffentlichen Stellen in den letzten zwanzig Jahren gelungen ist. Nach meiner Kenntnis wurde noch keiner Behörde wegen mangelnder Barrierefreiheit der Betrieb untersagt. Ein Produkt im Zweifelsfalle vom Markt nehmen zu müssen, stellt hingegen ein wirkmächtiges Risiko dar und wird kaum ignoriert werden!

Kontakt / Information und Kommunikation:

Wilfried Laudehr
040 8 55 99 20-26
w.laudehr@kompetent-barrierefrei.de

Wilfried Laudehr, Information und Kommunikation, Kompetenzzentrum für ein barrierefreies Hamburg